
Die Farben des Wassers – Rot

Wir befinden uns in einem Märchendorf, nahe eines Märchenwaldes, umgeben von vielen kleinen Märchenseen. Die Seen haben keine große Ausdehnung, viele können innnerhalb kürzester Zeit schwimmend durchquert und bei allen kann das gegenüberliegende Ufer leicht erspäht werden. Doch die Märchenseen um den Märchenwald sind besonders – wie Märchenseen eben so sind. Jeder schimmert in einem anderen Farbton. Da gibt es das Rotwässerchen. Ein kleiner See, fast zu klein, um noch als See bezeichnet zu werden. Die Bezeichnung „Teich“ würde ihm wohl mehr gerecht werden. Wie der Name schon sagt, schimmert er rötlich, manchmal sogar pink. Diesen See fand das kleine Märchen-Mädchen, das mit ihrer Familie im Märchendorf bei den Märchenseen lebte, wundervoll. Das war der erste See, den sie als ihren besten Freund auserkor. Oft besuchte sie ihn, beobachtete seine Oberfläche, ließ ihre Füße in dem manchmal kühlen, manchmal warmen Nass baumeln. Irgendwann begann sie sich zu fragen, warum der See so rot war. Als sie ihre Eltern, Nachbarn und Lehrer fragte, konnte keiner ihr eine richtige Antwort geben. Immer wieder tauchte die Frage – Warum bist du so rot? – in ihren Gedanken auf und ließ ihr keine Ruhe. Also beschloss sie, sich selbst auf die Suche nach einer Antwort zu begeben.
Ihr erster Versuch führte sie in das Nachbardorf. An dessen Rand lebte eine etwas schrullige Alte, die sich gut mit Heilkräutern auskannte. Man suchte sie auf, wenn man ein Mittelchen für dieses und jenes Wehwehchen brauchte und ansonsten machte man einen großen Bogen um die Alte. Das kleine Mädchen war mit ihren Eltern einmal dort gewesen und hatte die Alte eigentlich ganz nett gefunden. Doch auch die Alte konnte ihr keine Antwort auf ihre Frage geben, aber sie gab dem Märchen-Mädchen einen Rat. Sie solle es doch mal beim Herr Pfarrer versuchen, der ein belesener Mann sei. Doch auch der Herr Pfarrer hatte keine Antwort für das Mädchen, sondern einen Vorschlag. Wenn er das nächste Mal in die entfernter gelegene Märchenstadt fuhr, sollte sie ihre Eltern fragen, ob sie mitfahren durfte. Dann könne sie selbst in der dortigen Bibliothek nach Antworten suchen. Immerhin sei sie bereits ein großes Mädchen, das schon lesen konnte.
Ihre Eltern hatten keine Einwände und eines schönen Morgens ging es mit der Kutsche des Pfarrers los. Es war ein Abenteur für das kleine Märchen-Mädchen. Noch nie war sie so weit von ihrem Märchendorf entfernt gewesen. Die Stadt war groß und das Gedränge der vielen Menschen war für sie sehr ungewohnt. Aber der Herr Pfarrer führte die Kutsche gekonnt durch die schmalen, vollen Gassen hindurch und zur Bibliothek. Dort setzte er das Märchen-Mädchen ab, versprach, sie wieder abzuholen und fuhr zu seinem Termin. In der Bibliothek war es ruhiger, es roch etwas staubig und durch die Fenster drang nur gedämpftes Licht auf die meterhohen Regale, die bis auf den letzten Zentimeter mit Büchern befüllt waren. Das Märchen-Mädchen zweifelte nicht daran, dass die Antworten auf ihre Fragen dort zu finden waren. Doch wie sollte sie inmitten dieser tausenden Büchern, dasjenige finden, das ihr erklärte, warum ihr Freund Rotwässerchen so rot war?
Die Hilfe – in Form einer älteren, weishaarigen Bibliothekarin – nahte bereits. Sie führte das Märchen-Mädchen weiter in die Bibliothek hinein und zog ein großes, goldbeschlagenes Buch hervor. In verschlugenen Buchstaben stand dort „Die Farben des Wassers“. Nun war das Märchen-Mädchen ihrem Ziel ein Stück näher. In einer Leseecke schlug sie den schweren Buchdeckel auf und begann, vorsichtig umherzublättern. Die Kapitel des Buches waren nach Farben sortiert. So gab es ein Kapitel zu grünem, braunem, blauem und – da war es – rotem Wasser. Fasziniert las das Märchen-Mädchen, dass die Rotfärbung durch viele verschiedene Phänomene ausgelöst werden konnte. Meistens waren es Kleinstlebewesen, die während ihres Lebenszyklus rote Partikel ausschieden, die dann das Wasser färbten. Da gab es eine Alge namens Planktothrix rubescens – auch als Burgunderblutalge bezeichnet. Diese Alge mochte gemütliche Seens am liebsten. Seen, in denen es nicht so viel Bewegung gab und die Durchmischung gering war. In solchen Seen konnte die Alge sich sehr schnell vermehren. Außerdem verfügte die Alge über eine praktische Schwimmhilfe: kleine gasgefüllte Polster, mit denen sie aktiv ihre Position in den Seen verändern konnte. Sie war außerdem ein kleiner Egoist, weil sie Nährstoffe aus dem Wasser besonders gut aufnehmen konnte und damit anderen Seebewohnern das Essen wegnahm. Auch die Giftstoffe, die sie absonderte, konnten sowohl Menschen als auch tierischen Organismen schaden. Keine sehr angenehmen Zeitgenossen, dachte sich das Märchen-Mädchen. Aber zwei Dinge passten nicht: Erstens: Sie war schon oft in dem roten See geschwommen und es hatte ihr nichts ausgemacht. Gut, vielleicht ab und zu hatte ihre Haut ein ganz klein wenig gejuckt, aber das war schnell wieder vergangen. Aber der zweite Einwand war gewichtiger: Die Blutalge kam anscheinend nur in sehr großen, tiefen und nährstoffarmen Seen vor. Groß und tief konnte man das Rotwässerchen nahe ihres Märchendorfes wohl nicht nennen. Also blätterte das Märchen-Mädchen weiter, bis sie eine weitere Ursache für rote Seen fand. Einen weiteren Organismus: Halobakterien, zum Beispiel Halobacterium salinarum. Diese Organismen haben in der Schutzhülle, die sie umgibt, Bakteriorubine eingelagert. Das sind Farbstoffe, die zur Gruppe der Carotinoide gehören – dem gleichen Farbstoff, der auch in Karotten zu finden ist. Halobakterien lagern diese Farbstoff nicht ein, um hübsch auszusehen, sondern um sich vor UV-Strahlen der Sonne zu schützen. In Salzkristallen eingeschlossen, können sie hunderte Jahre überstehen. Allerdings brauchen sie sehr viel Salz in ihrer Umgebung, um überleben zu können. Wenn sie in nur leicht oder gar nicht salzigen Wasser waren, drang so viel Regenwasser in ihre kleinen Körperchen ein, dass sie platzten. Das kleine Märchen-Mädchen schüttelte sich. Das war eine grauenvolle Vorstellung. Sie war froh, kein Halobakterium zu sein. Aber auch dieses konnte nicht für die Rotfärbung des Rotwässerchens verantwortlich sein – er war nicht salzig und damit auch kein geeigneter Lebensraum für die kleinen Salzliebhaber. Also blätterte sie weiter. Doch so richtig wurde sie nicht fündig. Sie blätterte wieder zurück. Die Burgunderblutalge könnte doch passen – vorausgesetzt das Rotwässerchen war wesentlich tiefer als es den Anschein machte. Das Märchen-Mädchen musste nur herausfinden, wie tief der See war.
Auf dem Rückweg fragte sie wieder den Herr Pfarrer um Rat. Er schlug vor, dass sie ein langes Seil nehmen und einen kleinen Stein an das eine Ende binden sollte. Dann könnte sie den Stein so weit sie konnte in den Märchensee werfen und über die Länge des Seils abschätzen, wie tief der See war.
Gesagt, getan. Sofort am nächsten Tag setzte das Märchen-Mädchen den Vorschlag in die Tat um. Eine Verblüffung wartete auf sie. Sie hatte drei der längsten Seile ihrer Eltern aneinander geknotet und trotzdem waren sie zu kurz. Der Stein wollte weiter im Rotwässerchen sinken, sie konnte ihn aber nicht weiter hinunter lassen, weil ihre Hände nur noch ein winziges Stück Seil in der Hand hielten. Das Rotwässerchen war wirklich viel tiefer als gedacht. Damit war das Märchen-Mädchen überzeugt, dass sie ihre Antwort gefunden hatte. Ihr Freund Rotwässerchen erhielt seine rote Farbe durch kleine Lebenwesen, die sich Burgunderblutalge nannten. Die Suche nach der Antwort hatte ihr Spaß gemacht und sie hatte ihren Freund das Rotwässerchen dabei besser kennen gelernt. Jetzt war es an der Zeit sich mit den anderen bunten Seen in der Umgebung ihres Märchendorfs zu beschäftigen. Was wohl die Ursache für deren Farben war?


