
Tiefbrunnen Wasserreich
Gestatten: Tiefbrunnen Wasserreich mein Name – wenn ich mich kurz vorstellen darf: Ich liege idyllisch gelegen in einer kleinen Talsenke, nahe eines Baches, der meist gemächlich an mir vorbeifließt. Um mich herum ist viel grün: zuerst Bäume, dann Wiese. Mir gefällt es hier. Es ist meistens ruhig. Ab und an kommt ein Fußgänger vorbei, oft in Begleitung eines Vierbeiners. Ansonsten ist hier wenig los. Nur an lauen Sommerabenden habe ich mehr Unterhaltung. Jugendliche nutzen meine etwas abgelegene Lage für ihre Feiern. Die Abwechslung gefällt mir – nur mag ich es nicht, wenn sie ihren Müll auf mir liegen lassen. Dann sehe ich so verwahrlost aus und die Menschen, die nach mir schauen, müssen den Müll wegräumen. Das ist mir unangenehm. Aber ich selbst kann den Müll nun mal nicht entfernen. Ich bin 30 Meter tief im Boden verankert. Da ist es schwierig, mich fortzubewegen.

Das darf ich auch nicht, denn ich bin wichtig. Ich versorge tausende Menschen mit meinem Wasser. Rund um die Uhr. Das Grundwasser, in das ich hineinreiche, wird von einer Pumpe zu einem nur wenige Meter entfernten hübschen Backsteinhaus befördert – meinem Pumpwerk. Wir leben schon viele Jahrzehnte direkt nebeneinander und kennen uns dementsprechend gut. Mein Pumpwerk hat einen interessanten Charakter. Sein Äußeres, mit sehr viel Liebe zum Detail gestaltet, strahlt Traditionalität und Beständigkeit aus kann aber schwerlich als modern bezeichnet werden. Während bei mir der Müll mein Aussehen beschädigt, sind es bei meinem Pumpwerk die Graffitis auf seinen Mauern. Das trifft ihn immer sehr. Ein bisschen eitel ist er nämlich schon. Sein Inneres ist dafür moderner und im Großen und Ganzen gut in Schuss. Das macht ihn zu einem verlässlichen Partner – eine wichtige Eigenschaft für unsere gemeinsame Arbeit. Andere Dinge sind leider nicht so sehr verlässlich. Seit ein paar Jahren haben die benachbarten Tiefbrunnen in vergangenen Sommer Schwierigkeiten, genügend Wasser bereitzustellen. Der Grundwasserspiegel ist gesunken, und es fließt nicht mehr genügend Wasser nach, nachdem es entnommen wurde. Das belastet uns alle. Denn so viel ist von unserem Wasser abhängig: Die Hygiene der Menschen, die Bereitstellung von Löschwasser, wenn es mal brennt. Die Felder der Bauern, auf denen zum Beispiel im Sommer leckere Erdbeeren wachsen. Oder auch finanziell gesehen, wenn unser Wasser an Industrie und als Fremdwasser an andere Wasserversorger geliefert wird. Wenn es hier Unterbrechungen gibt, kann das auch Strafzahlungen zur Folge haben. Das wollen wir natürlich vermeiden. Aus unserer Sicht sind Regentage im Sommer eine Erleichterung, das hilft uns sehr, zuverlässig zu arbeiten.

Aber nicht nur fehlender Regen lässt uns angespannt in die Zukunft sehen. Zu viel Regen schadet uns auch. Mir vor allem, weil ich in einem Überschwemmungsgebiet liege. Bei HQ100 steht mir das Wasser bis zum Hals. HQ100 bedeutet, dass ein Hochwasser in diesem Ausmaß statistisch gesehen alle hundert Jahre vorkommt. Seit ich gebaut wurde, ist das noch nie passiert. Aber man weiß ja nie. Wenn das Wasser des Flusses in mich hineinläuft, ist das nicht gut. Im Oberflächenwasser sind häufiger Verunreinigungen vorhanden. Organische Stoffe, Spurenstoffe, Pestizidreste, Krankheitserreger oder ähnliches. Der Eintrag dieser Stoffe in mein gutes Wasser sollte möglichst vermieden werden. Auch kommen manche Teile von mir und meinem Pumpwerk in die Jahre. Sie müssen nach und nach erneuert werden. Zum Beispiel ist neulich der Motor einer der Pumpen meines Pumpwerks kaputt gegangen. Das hatte zur Folge, dass nur ein Teil des Wassers weiter zur Aufbereitung gefördert werden konnte. Zum Glück war das im Herbst, wo die Menschen weniger Wasser verwenden. Deshalb konnten wir dennoch ausreichend aufbereitetes Wasser zur Verfügung stellen. Wenn ich von wir spreche, meine ich mein Pumpwerk, mich und den Dritten im Bunde: unser Wasserwerk, wo die Aufbereitung stattfindet. Unser Wasserwerk ist im Vergleich zu mir ein Jungspund. Erst achtzehn Jahre alt, fast noch grün hinter den Ohren. Er filtert unter anderem das Wasser mehrfach und entfernt so kleine Sandpartikel, Bakterien und Viren. Schließlich will niemand diese Dinge trinken. Außerdem muss die Wasserhärte reduziert werden. Genauer gesagt wird vor allem Calcium und Magnesium aus dem Wasser entfernt. Wenn du dich jetzt fragst, warum man das macht, wenn Calcium und Magnesium so gesund sind: Zu viel würde die Leitungen so verkalken, dass der Betrieb ein Problem wäre. Außerdem sind diese hohen Konzentrationen doch etwas viel und das harte Wasser schmeckt manchen Menschen nicht mehr besonders gut. Dabei ist es uns ganz wichtig, dass die Menschen sich über unser Wasser freuen. Wir arbeiten Tag und Nacht dafür und die Wasseraufbereitung ist so aufwendig. Wenn wir das Wasser dann fertig aufbereitet haben, wird es schließlich in zwei große Wasserkammern geleitet. Von da fließt es in das Leitungsnetz unterhalb der Erde, bis es schließlich die Häuser der Menschen erreicht und sie nur noch den Wasserhahn aufdrehen müssen.
Du siehst, ich habe nicht übertrieben. Von unserer Arbeit hängt viel ab.
Mein Name ist Tiefbrunnen Wasserreich und ich freue mich, dass du meiner Erzählung gelauscht hast. Vielen Dank und vielleicht bis bald, wenn ich weitere Geschichten über meine Arbeit zu erzählen habe.

